Eine Rezension zum Buch finden Sie im Anschluss. Sie stammt aus dem Online-Rezensionsforum „literaturkritik.de“. Der Autor Peter Handke kann wohl als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, es ist aber besonders zu erwähnen, dass er 2019 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, als zweiter Österreicher nach Elfriede Jelinek 2004.
„Der Bildverlust“ ist ein abenteuerlicher Roman. Und es spricht für die besondere Qualität dieses Buchs, dass dabei Form und Inhalt noch übereinstimmen. Die auf über 700 Seiten dargestellte Reise einer finanzmächtigen Wirtschaftsagentin durch die spanische Sierra de Gredos zieht den Leser gleichsam in ein poetisches Abenteuer hinein. Die Hauptfigur ist als Unternehmerin schon von Berufs wegen zu manchem Wagnis bereit. In der Natur und auf Reisen schöpft sie Kraft für ihre Arbeit. Was sich dabei an Bildern in ihrem Gedächtnis ansammelt, betrachtet sie durchaus als Kapital. Der Wert ergibt sich aus einem einfachen Tauschverhältnis: Bilderreichtum gegen Lebensenergie und Arbeitskraft. Ihr ganzes Handeln ist sehnsüchtig darauf ausgerichtet sich zu bewähren. Und das gerade auch bei ihrer jüngsten, vielleicht letzten Durchquerung der Sierra de Gredos, die sie nur deshalb auf sich nimmt, um einem Autor ihre Erfolgsstory zu diktieren. Als „Geldmächtige“, „Finanzkönigin“ und „Herrin der Geschichte“ wird sie beschrieben: eine archetypische Figur im Kampf um kuturelles Kapital. Geradezu manisch spornt sie sich bei ihrer Reise zu Hochleistungen an. Eine sportliche und reiche Frau als Heldin ist literarisch fragwürdig. Zu viel Kommerz scheint damit verbunden zu sein. Ständig verunsichert das Buch jedoch den Leser, ob es sich bei der Reise um ein in den Text eingelassenes Phänomen der betrachtenden Phantasie oder um ein der Außenwelt entnommenes Geschehen handelt. Es kann beides zutreffen.
Der an Cervantes Ritterroman geschulte, burleske Stil ist als deutlicher Hinweis zu verstehen, dass die Abenteuer nicht ganz ernst zu nehmen sind. Um poetische Bilder handelt es sich, und wie um sich selbst zu bewähren, entfaltet Handke einen außergewöhnlichen Reichtum an darstellerischen Möglichkeiten. Sämtliche, in anderen Texten des Autoren gängige Motive versammelt das Buch in einer für den Umfang des Romans ungemein dichten Zusammenschau. Dazu gehört eine kräftige Portion Zweifel an der Wertegemeinschaft. Wohlstand findet die Unternehmerin immer mehr abseits der leuchtenden Zentren, in der malerischen Peripherie, einem kargen Gebirgsdorf in der Hondareda-Hochsenke, abgeschieden von den Errungenschaften der Zivilisation. Diesmal liegt es jedoch nicht im Interesse des Autors, das einfache Leben zu romantisieren, so wie es Handke oft und zu Recht vorgehalten wurde, wohl wissend, dass die folkloristischen Überbleibsel der alten Herkunftswelt stärker denn je von Auszehrung bedroht sind. Die eigentliche Spitze gilt der Aufklärungsideologie, die stets geregelte Subordination statt wild wuchernder Phantasie verlangt.
Die Hauptfigur ist ehrlich genug, um sich von der Kritik nicht auszunehmen. „War es nicht eher so, dass sie auch hier in der hohen Sierra, nach eigenem Bekunden freiwillig ausgeschieden aus der zeitgenössischen Bankenwelt, nicht davon ablassen konnte, in den Gegenständen ,die Wertsache‘ zu suchen, welche nicht als Wert, nicht für sich allein bleiben, sondern im Verband mit möglichst vielen anderen Wertsachen, in den ständig fruchtbaren Umlauf gebracht zu werden hatte?“ Es zeichnet sich keine Auflösung des Widerspruchs ab, ja nicht einmal der Wunsch danach. Die Polarisierung zwischen alter und neuer Welt aber bleibt bestehen. Thomas Steinfeld sprach in der SZ vom großen „Gegenbuch unserer aktuellen Literatur“. Wer das vielschichtige, oft auch verwirrende und in sich gegenläufige Buch liest, wird sehen, dass dies bloß die halbe Wahrheit ist. Handke ist es gelungen, die Gegensätze zum Bersten zu bringen“.¹