Anna und das Anderle. Eine Recherche

Strobl, Ingrid

6,00 

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Was es mit dem Kult um das „Anderl von Rinn“auf sich hat, ist im Anschluss kurz erläutert. Zuerst aber ist der Klappentext zitiert, der die Intention dieses sehr lesenswertes Buches anschaulich macht:

„Auf einer Reise in ihre Heimat Tirol begibt sich die Buchhändlerin Anna auf die Suche nach ihren Wur­zeln und zugleich nach dem Antisemitismus, der den Boden, in dem diese Wurzeln steckten, vergiftet hat. In der Auseinandersetzung mit dem ihr fremd ge­wordenen Land stößt Anna auch auf die schwarzen Flecken ihrer eigenen Geschichte. Sie entdeckt, daß das, was sie an ihrer Heimat liebt, und das, was sie an ihr haßt, sehr nahe beieinanderliegen. Daß die guten Geister in den altbekannten Sagen der Kindheit im­mer nur den Einheimischen helfen und die »Frem­den« vertreiben. Daß der vertraute Dialekt auch die Sprache der Mörder ist, die in der Pogromnacht in Innsbruck (9. Nov. 1938) drei Juden erschlugen. Hier in Tirol begegnet Anna der Ritualmordlegende über das »Anderle von Rinn« wieder, die sie als Kind tief beeindruckt hat, und lernt das Ausmaß des Tiro­ler Judenhasses kennen, der auch ihr in der Kindheit wie selbstverständlich beigebracht wurde. So gerät die Reise in die Heimat für Anna zu einer Konfron­tation mit ihrem eigenen Antisemitismus, der sich als linker Antizionismus getarnt hatte, und zur Suche nach ihrer politischen Identität.

Beim Kult um das „Anderl von Rinn“ handelt es sich um die Formulierung und scheinbare Begründung einer Legende, derzufolge ein Bub, eben jenes „Anderl von Rinn“, im 15. Jahrhundert von durchreisenden Juden in Judenstein, einem Ortsteil der Gemeinde Rinn östlich von Innsbruck, im Zuge eines Ritualmordes getötet worden sein soll. Die Legende selbst entstand in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als der in Trient geborene und als Arzt in Hall in Tirol tätige Hippolyt Guarinoni von einem Kindesmord hörte, der sich in früherer Zeit in dieser Gegend angeblich ereignet haben soll. Nach dem Vorbild des weithin bekannten Märtyrerkultes des „Simon von Trient“ verfasste Guarinoni eine erste Schrift, die ein krasses Beispiel für den katholisch geprägten Antijudaismus darstellt. Die päpstliche Bulle „Beatus Andreas“, von Papst Benedikt XIV 1755 erlassen, machte den Ort Judenstein zu einem Wallfahrtsort, indem sie die Verehrung des „Anderl von Rinn“ innerhalb der katholischen Kirche gestattete. Bis ins 20. Jahrhundert war dies der offizielle Standpunkt der „Amtskirche“, erst 1953 wurde der Festtag des „Anderl von Rinn“ vom Innsbrucker Bischof Paulus Rusch aus dem Kirchenkalender getilgt. Obwohl von der historischen Forschung längst bewiesen worden war, dass es keinen Ritualmord in Rinn gegeben hat, dauerte es noch bis 1994, als der damalige Bischof der Diözese Innsbruck Reinhold Stecher den Anderl-Kult kirchlicherseits verbot.

Der weiter andauernden Verehrung durch die lokale Bevölkerung und fortdauernder Pilgerfahrten nach Judenstein tat dies aber keinen Abbruch. Auch in neuester Zeit gab es diese kultische Verehrung und die Pilgerfahrten, z. B. 2014¹ und 2015² wie die Tageszeitung „Der Standard“ berichtete. Und auch das Ziel der Pilgerfahrten, der „Anderl-Hof“ in Rinn, behaupteter Wohnsitz des Kindes, reiht sich in die Legendenbildung ein, wurde er doch erst im 17. Jahrhundert erbaut, der behauptete Tatzeitpunkt datiert aber schon aus dem 15. Jahrhundert.³ „Fake News“ und „Alternative Facts“ gab es auch schon früher.

¹https://www.derstandard.at/story/2000008593311/kult-um-anderl-von-rinntotgesagte-leben-laenger
²https://www.derstandard.at/story/2000018933735/anderl-von-rinn-ein-toter-kult-und-seine-anhaenger
³https://de.wikipedia.org/wiki/Anderl_von_Rinn

Ingrid Strobl, geboren 1952, studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Innsbruck und Wien und promovierte über »Rhetorik im Dritten Reich«. Sie war zunächst freiberuflich beim ORF in Wien tätig, zog 1979 nach Köln und arbeitete von 1979 bis 1986 als Redakteurin der Zeitschrift Emma. 1986 machte sie sich als freie Autorin selbstständig. In zwei Büchern und einem Film beschäftigte sie sich mit dem Thema Frauen im Widerstand bzw. jüdischer Widerstand gegen die deutsche Besatzung.

 

Signatur

Autor: Strobl, Ingrid
Erscheinungsort: Frankfurt am Main
Verlag: Fischer Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr: 1995
ISBN: 3596223822
Reihe: Collection S. Fischer 82 (hrsg. v. Uwe Wittstock)
Sprache: Deutsch
Seiten: 111
Gewicht in gramm: 148
Größe in cm: 19,1 x 12,7
Ausstattung: Taschenbuch
Bewertung: Einwandfreier Zustand/wie neu